Erfahrung
Erfahrungsbericht 10

Bericht über die Schulzeit von Martin
Junge, 24. SSW, Baden-Württemberg, Förderschule, soziale Integration, Shunt, Sehbehinderung, kognitive und feinmotorische Defizite
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Martin wurde am 18.07.1996 in der 24. SSW geboren. Er wog 630 g und war 29 cm groß. Er hatte beidseitig eine drittgradige Hirnblutung, wodurch sich ein Hydrocephalus entwickelte, weshalb er bis heute einen Shunt (Hirnwasserableitung) hat.
Kindergarten und Förder- und Erziehungshilfeschule
Von 2000 - 2003 besuchte Martin mit Unterstützung einen Regelkindergarten. Doch dann kam die Frage der Schulwahl. Eine Regelschule konnten wir uns nicht vorstellen, da wäre schon die Größe der Klasse ein Problem gewesen. Wir haben uns für eine damals noch sehr neue Förder- und Erziehungshilfeschule, die Raphaelschule Pforzheim, entschieden. Diese Schule arbeitet wie die Waldorfschule und die Klasse hat maximal 12 Schüler. Erst ein Jahr vor Martins Einschulung wurde diese Schule gegründet.
Mit seinem Klassenlehrer hatte er großes Glück. Er strahlt eine angenehme Ruhe aus, ist sehr geduldig und hat durch eigene Erfahrungen durchaus Verständnis für die Probleme von Frühchen. Trotzdem fiel es Martin anfangs sehr schwer, sich in den Schulalltag einzugewöhnen. Durch sein Verhalten steht sich Martin oft selbst im Weg. Was er kann, zeigt er oft nur, wenn er es will. Auf gezielte Fragen erhält man oft zur Antwort, dass er es nicht wüsste. Buchstaben und Zahlen lernte er alle. Bis heute fällt es Martin jedoch sehr schwer, diese Buchstaben als Wörter zu lesen. Ein normales Textblatt kann er nicht flüssig lesen, obwohl er jetzt schon in der 8. Klasse ist. Manchmal üben wir auch mit einem Leselernprogramm, bei dem man Silbe für Silbe hervorheben kann. Das fällt Martin dann leichter zu lesen. Auch sollte es ausreichend groß geschrieben sein, denn durch die Frühgeburt hat er auch Probleme mit den Augen. Auf einem Auge sieht er fast gar nichts. Auf dem besseren Auge sieht er in die Ferne sehr schlecht, zum Lesen reicht es aber eigentlich aus. Wir haben ihn extra in einer Schule für Sehbehinderte untersuchen lassen. Die Problematik des Lesens hängt aber nicht nur mit den Augen zusammen.
Rechnen fällt Martin leichter. In der 3. Klasse hat er das kleine 1x1 gelernt. Schwierigkeiten hat er aber z. B. beim Lesen von Textaufgaben und manchmal braucht er auch Hilfestellung, wie er etwas rechnen muss. Etwa seit Anfang der 7. Klasse haben wir mit seinem Lehrer besprochen, dass er für die Schule und für die Hausaufgaben einen kleineren Laptop bekommt. Vorher hatten wir schon Hausaufgaben an unserem größeren Laptop zuhause gemacht und ausgedruckt, aber der war zu schwer, um ihn mit in die Schule zu nehmen. Durch Martins Probleme mit der Feinmotorik ist es oft schwer, seine Handschrift zu lesen. Wenn er z. B. in der Schule von der Tafel abgeschrieben hat, konnte man manchmal den Anfang noch lesen, doch dann war es oft ein Ratespiel, was er geschrieben hatte. Oft wusste er es selbst nicht, dann musste ich bei Klassenkameraden anrufen, um zu erfahren, was er machen musste. Durch den Computer ist es zwar besser geworden, trotzdem kommt es vor, dass man den Text nicht lesen kann, wenn nicht in der Schule ein Klassenkamerad den Text durchschaut und evtl. verbessert.
Überhaupt stellen Hausaufgaben oft eine besondere Herausforderung dar. Es kann vorkommen, dass ich ihm z. B. beim Rechnen eine Hilfestellung geben wollte und er bekommt einen "Ausraster". Oder wenn ich ihn beim Lesen verbessern muss, sagt er: "Lies doch du den Text." Manchmal verlässt er dann wütend sein Zimmer und rennt durch das Treppenhaus. Zum Glück gibt es aber auch Phasen, wo es besser läuft. Auf jeden Fall braucht man jede Menge Geduld.
Was Martin sehr gut kann, ist Texte auswendig lernen. In der Schule lernten sie z. B. schon den Zauberlehrling, den Erlkönig oder die Bürgschaft. Wenn er etwas oft genug hört, kann er es sich gut merken. Die Texte musste ich dann oft vorlesen, bzw. in der Schule haben sie es zusammen gesprochen. So lernte er übrigens auch das 1x1, indem ich ihm eine Zeit lang jeden Abend etwa 3 Reihen vorsagte.
Seit einiger Zeit gibt es in der Schule auch "offenen Unterricht" in Deutsch und Rechnen, wo die Kinder je nach Wissensstand klassenübergreifend unterrichtet werden. In der 6. und 7. Klasse hat Martin über längere Zeiträume Unterstützung durch die Frau seines Klassenlehrers bekommen. Sie half ihm bei den Hausaufgaben, machte Referate mit ihm und vertiefte den Unterrichtsstoff. Aus gesundheitlichen Gründen ist es momentan leider nicht möglich, dass wir das weitermachen können. Es wäre aber auch ein zeitliches Problem, da er dieses Jahr den Konfirmandenunterricht im Ort besucht. Glücklicherweise gibt es dort ehemalige Konfirmanden, die ihm beim Ausfüllen von Textblättern helfen. Alles in allem glauben wir, die richtige Schule für Martin gefunden zu haben. Auch wenn ihm vieles schwer fällt, denke ich doch, dass er eine Menge gelernt hat.
Ein weiteres Problem stellen die sozialen Kontakte dar. Da ich vor Martins Geburt bereits zwei Fehlgeburten in der 22. und in der 8. SSW hatte, ist er ein Einzelkind. Seinen Cousin, der 5 Jahre jünger ist, sieht er auch nicht so oft, da dieser ca. 1/2 Autostunde entfernt wohnt. Mit anderen Kindern Kontakt aufzunehmen fällt ihm sehr schwer. Schon im Kindergarten hielt er sich lieber an die Erzieherinnen. Als Mutter versuche ich zwar immer wieder Kontakte mit anderen Kindern herzustellen, mit zunehmendem Alter der Kinder wird das aber auch schwieriger. Ein Schüler z. B., von dem Martin sich wünschen würde, dass er ihn besucht, möchte nicht kommen.
Wie geht es weiter?
Da Martin jetzt schon in der 8. Klasse ist, stellt sich auch die Frage: "Wie geht es nach der 9. Klasse weiter?" Im 7. Schuljahr hat die ganze Klasse mit dem Lehrer 2 Wochen auf einem Bauernhof, wo auch Behinderte leben und arbeiten, mitgeholfen, um einen ersten Einblick in das Berufsleben zu bekommen. Gegen Ende der 7. Klasse machte er ein einwöchiges Praktikum in einer Kantine, in der fast nur Behinderte arbeiten. Der Anfang fiel ihm schwer, es ging aber jeden Tag etwas besser. Eigentlich war diese eine Woche etwas zu kurz.
Über das Arbeitsamt gibt es wohl Möglichkeiten zunächst über eine Berufsschule weiterzumachen, ob das aber der richtige Weg für unseren Sohn ist? In Pforzheim gibt es von der Gustav-Heinemann-Schule (eine Schule für Geistig-Behinderte) eine Berufsvorbereitende Einrichtung (BVE), die Schüler gezielt auf die Integration in "normalen" Betrieben vorbereitet. Diese Einrichtung entscheidet, ob sie einen Schüler überhaupt aufnimmt. Außerdem ist es einfacher, in diese Einrichtung zu kommen, wenn man vor Abschluss einer Schule in die Gustav-Heinemann-Schule umgeschult wird.
Wir wissen noch nicht, wie es konkret weitergeht, aber wir hoffen, dass Martin seinen Weg findet. Zur Zeit seiner Geburt waren die allgemeinen Entwicklungsprognosen für ihn nicht sehr rosig. Dafür sind wir mit seiner bisherigen Entwicklung sehr glücklich.
Familie P. aus Baden-Württemberg
27.01.2011