Erfahrung
Erfahrungsbericht 13

Wir Frühchen sind doch etwas Besonderes
Frau, 27. SSW, Schweiz, Ausbildung zur Operationstechnischen Assistentin, zierlich, Augenprobleme
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Ich bin ein Frühchen aus der 26+3 SSW. Allerdings bin ich schon/erst 30. Wir Frühchen sind an manchen Stelle doch etwas "Besonderes"...
Ich selbst bin erst mit 7 in die Schule gekommen, weil ich vorher zu klein war. Der Schulpsychologe meinte damals wohl "vom Kopf her wäre es kein Ding gewesen, aber eben zu mini". Ich habe die Türen aber auch im 1. und 2. Schuljahr nicht alleine auf bekommen...
Ich habe eine Schädigung der Augen von der Überdruckbeatmung im Inkubator. Eine Strabismus-OP hatte ich mit 9 Jahren am rechten Auge und ich bin natürlich stark weitsichtig und habe kein Stereosehen. Mit 9 Monaten habe ich meine erste Brille bekommen und meine Eltern waren Ewigkeiten jeden zweiten Tag mit mir in der Augenklinik...
Die Zeit nach meiner Geburt war für meine Eltern sicher schwer. Meine Mutter hat in A. im Krankenhaus gelegen und ich in B. in der Klinik. Nach 4 Wochen durfte sie dann mal mit meinem Vater nach B. fahren, um ihr Kind überhaupt mal sehen zu können.
Schulzeit
Die Schulzeit war so einigermaßen für mich. Also, dumm bin ich nicht, aber eben immer noch klein; 1.60 m hab ich aber doch geschafft. Aber man sieht eben, dass die Entwicklung nicht so ist wie bei anderen, da ich z.B. Schuhgröße 35 und Handschuhgröße 5 1/2 im OP habe. Winterhandschuhe kaufe ich meist in der Größe 4 - 4 ½, für den OP gibt´s nur leider keine kleineren Handschuhe.
Kinder untereinander können echt eklig sein und ich habe mir damals auch viel anhören müssen wegen den dicken Gläsern, dem Abkleben der Augen und auch wegen der Neurodermitis. Aber ich wusste eigentlich schon immer, wer ich bin, und hab mir nichts gefallen lassen. Warum auch?
Klar bin ich schon öfter operiert worden als andere, oder war öfter krank, was sicher auffällt und auch für Gerede sorgt, aber das ist mir egal. Erstens kennen die Meisten nicht den Hintergrund und zum anderen, so lange über einen geredet wird, wird noch an einen gedacht. Und dann kommt das noch mit der Dummheit anderer dazu. Trotz allem geh ich meinen Weg und diesen gehe ich gerne!
Klar hatte ich in der Schule auch Probleme, keine Lust oder so gehabt, aber das Beste daraus gemacht. Sport war auch oft "Sch…", vor allem Ballsport, alleine weil ich eben kein räumliches Sehen habe. Ich habe auch in den Ferien Sachen nacharbeiten müssen oder freiwillig das 10. Schuljahr nochmal gemacht. Ich hatte meinen Abschluss, aber eben auf Grund einer OP massig Fehlstunden. Ich wollte mein Abi machen und habe daher das 10. Jahr einfach nochmal gemacht und so alles auf die Noten gebracht, die ich wollte. Meine Eltern bzw. meine Familie haben mir dies ermöglicht und mich unterstützt.
Ausbildung und Beruf
Das Einzige, was mir ein Arzt ausgeredet hat (und dafür hat er 3 Jahre gebraucht), war, Unfall-Chirurgin zu werden. Er hat nie angezweifelt, dass ich es packen würde, aber eben die körperliche Belastung, die hinter dem Handwerk in der Traumachirurgie steht, die hat er dann doch als nicht sinnvoll erachtet. Alleine weil ich eben so oft was mit den Bändern, Sehnen und Co. hatte oder habe, auf Grund der Zeit, die mir eben fehlt.
Naja, so ganz ist sein Ausreden nicht aufgegangen. Ich bin Operationstechnische Assistentin geworden. Grundsätzlich kenne ich mich in allen Fachbereichen aus, aber habe mich dann für mich selbst auf die Ortho/Trauma- und plastische Chirurgie sowie Gynäkologie und Geburtshilfe spezialisiert. Ich habe sogar mit dem Gynäkologen am Tisch gestanden, der mich damals geholt hat. Er hat nur gelacht und den Kopf geschüttelt und meinte "Weisste eigentlich, dass du froh sein kannst, dass du überhaupt hier stehst!?" und er war auch einigermaßen damit einverstanden, dass ich im OP rumturne. Inzwischen ist er verstorben. Ich mache meine Arbeit und ich liebe meinen Job! Ich werde nebenbei meinen Betriebswirt für Gesundheitswirtschaft und meine Qualitätsscheine machen und was mir sonst noch einfällt. Chirurgisch-technischer Assistentin kann ich leider nicht werden, da ich in die Schweiz ausgewandert bin und hier die Qualifizierung nicht möglich ist, da dies noch in den Kinderschuhen in Deutschland steckt.
Unterstützung und ganz viel Selbstbewusstsein und Energie
Dass ich meinen Weg so gehen konnte, verdanke ich meinen Eltern und allen anderen aus der Familie. Es hatten immer alle ein Auge auf mich und irgendwie ist das auch heute noch so und ich glaube, es ändert sich auch nie. Meine Eltern haben gegen den Rat der Ärzte sogar noch 2 Kinder bekommen. Zwischen meinem Bruder und mir sind zwar 6 und meiner Schwester und mir 9 Jahre, aber ich will die beiden nicht missen!
Und alles andere meistere ich auch, und was andere über mich denken, interessiert mich inzwischen echt nicht mehr! Als Kind und in der Schule war das anders, aber ich muss sagen, meine Lehrer haben mich auch immer unterstützt und waren für mich da. Den Lehrern heute stehe ich da eher mit Kritik gegenüber. Die Meisten von denen kommen ja mit sich selber nicht klar und sind daher auch oft schlechte Ansprechpartner und die Ausbildung hat sich doch arg verschlechtert. Leider...
Ich finde, Frühcheneltern sollen Ihre Kinder nicht in Watte packen und sie ihren eigenen Weg gehen lassen. Und wenn ein Frühchen etwas will, sollten sie es unterstützen. Also meine Eltern haben mir nie ausreden wollen, in den OP zu gehen oder sonstiges. Der eigene Kopf funktioniert doch sehr gut. Nur wenn man auf dem Holzweg ist, dann muss man natürlich eingreifen. Wenn ein Kind in der Schule leidet, muss man als Eltern den Kontakt zu den anderen Eltern suchen und den anderen Kindern in Ruhe und verständlich erklären, was anders ist und warum es anders ist. Klar gibt es immer Kinder, die das nicht begreifen, aber auf die kann man dann ja eh verzichten. Man muss ja auch als Kind nicht jeden mögen und toll finden, wie das auch bei Erwachsenen ist.
Wie ich auf andere gewirkt habe oder wirke, können meine Eltern und z.B. meine Kindergärtnerin sagen. Zu ihr habe ich nämlich immer noch Kontakt. Ich habe im Laufe der Jahre selbst schon einige Frühchen gesehen und habe da eine geteilte Meinung dazu. Ich stehe manchen Dingen sehr kritisch gegenüber und das mit der Lehre und Forschung ist da in meinen Augen so eine Rolle, die nicht so ganz ohne ist. Grundsätzlich denke ich, es lässt sich alles machen und schaffen, wenn das Umfeld stimmt und die Unterstützung da ist.
So, ich hoffe, es hat Sie überhaupt interessiert und irgendwie geholfen. Ich finde das Buch toll, weil es eben echt ab und an schwer und nervig war, wenn es hieß, die ist schon wieder krank oder so. Auch in der Ausbildung, das zieht sich eben wie ein roter Faden durchs Leben, aber ich denke mir halt "Lasst mich!", ich bin froh über mein Leben und glücklich und anderen geht es noch schlechter!
Nachtrag
Ach, ich hatte vergessen zu erwähnen, dass ich seit 2008 auch keine Schilddrüse mehr habe, da diese komplett entfernt werden musste. Man hat man mir natürlich nahe gelegt, keine Dienste mehr zu machen wegen der Arbeit in der Nacht, und dass so um 1 Uhr rum die Tablette aufgebraucht ist. Ich merke schon eine heftige Veränderung, sobald die Hormonversorgung fehlt. Da reagiert der Körper wirklich heftig, aber das legt sich dann so ab 3 Uhr wieder und ich nehme die nächste Tablette dann morgens wieder wie immer. Ich arbeite normal weiter, ob 24-Stunden-Anwesenheitsdienst, Rufdienst für die Nacht oder wie auch immer. Wenn man weiß, was kommt und seinen Körper kennt, kann man damit auch umgehen. Und wenn man die Kollegen informiert, haben diese auch Verständnis. Gut, in meinem Fall haben die natürlich das Fachwissen und wissen um die Wichtigkeit der Schilddrüse oder eben der Tabletten und deren Funktion. Aber auch wenn ich privat unterwegs bin oder wir feiern, wissen das auch alle. Es ist auch inzwischen normal, wenn wir z.B. bei mir sind und es wird immer später, dass ich dann einfach ins Bett gehe und die anderen sitzen noch zusammen. Klar kann man sagen, das macht man nicht, es sei unhöflich, aber es gibt echt Schlimmeres.
Frau M. aus der Schweiz
5.11.2011